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Erzählungen
HOLZ, NICHT ZUM ANFASSEN
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Meine kleine Schwester war drei oder vier Jahre alt, als wir wieder bei Onkel
Gert und Tante Edda zum Mittagskaffee eingeladen waren. Das Interessante
dort waren zwei Schildkröten. Ich hatte vor diesem Besuch keine Schildkröten
angefasst. Kopf und Beine sahen etwas eklig aus, auch unberechenbar,
mal war der Kopf da, dann war er weg. Wir fütterten die Schildkröten mit
Salatblätter, meine Cousins und ich. An die Cousins kann ich mich kaum
erinnern, nur als Konkurrenz bei den Schildkröten. Unsere Eltern waren an
diesem Sonntagnachmittag natürlich auch anwesend. Es kam nicht häufig
vor, daß wir Onkel Gert und Tante Edda besuchten, vielleicht zwei Mal im
Jahr. Onkel Gert ist mein Onkel väterlicherseits, aber nicht mein Patenonkel
(dieses Manko steht, nach Befragung meiner Mutter in Relation zur Besuchshäufigkeit:
also eher selten). Er ist der älteste Bruder meines Vaters und
im Krieg schwer verletzt worden. Bei einem früheren Besuch war es vor-
gekommen, dass ich sein Holzbein im Badezimmer stehen sah. Es schmerzte,
das zu sehen. Schwer zu sagen, wo. An diesem Sonntag, es war Hochsommer,
hatte mein Onkel Probleme mit seiner Prothese. Ich sah ihn sonst immer mit
zwei Beinen und das Holzbein, das ich einmal im Badezimmer gesehen hatte,
war wohl sein zweites, sein Ersatzholzbein. Tante Edda hatte den Tisch schon
gedeckt, ich hatte mich unwillig von den Schildkröten getrennt, meine Eltern
saßen schon, ich dann auch, nur meine kleine Schwester ging noch zwischen
Tisch und Fenster, zwischen Fernseher und Tisch hin und her, als Onkel Gert
auf Krücken und mit nur einem Bein das Wohnzimmer betrat. Das Hosenbein
des nicht vorhandenen Beines war hochgeschlagen und mit Sicherheitsnadeln
festgesteckt. Meine Schwester, die bis dahin nur Menschen mit zwei Beinen
gesehen hatte, rannte schreiend hinaus, meine Mutter hinterher. Nur durch
viel gutes Zureden konnte meine Mutter sie draußen beruhigen und dazu bewegen,
das Zimmer wieder zu betreten. Sie blieb zunächst bei der Tür stehen.
Onkel Gert hatte sich in der Zwischenzeit an den Tisch gesetzt. An das andere
Ende des Tisches. Man gab ihr einen Platz möglichst weit von ihm entfernt.
Onkel Gert stand den ganzen Nachmittag nicht mehr auf.
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